Ich ging einen vorsichtigen Schritt weiter, dann noch einen ... und nochmals
einen. Schliesslich war meine Hand nur noch wenige Zoll von ihm entfernt.
Ich zögerte. War er überhaupt das Risiko wert? Sollte ich mich
seinetwegen in Gefahr bringen? Aber ich musste irgendetwas tun!
Wenn ich jetzt nicht handle - wer weiss, ob er dann diese
schreckliche Wunde überleben würde. Trotzdem - ein Risiko blieb
- wenn der Drache jetzt auch sehr stark verletzt war, wenn er bei Kräften
ist, naja - auf Schafhirten waren Drachen nun mal nicht gut zu sprechen.
Schliesslich bestand meine Aufgabe darin, die Herden zu beschützen
- auch gegen Drachen.
Schweratmend und mit halb geschlossenen Augen lag der geflügelte
Bronzedrache im hinteren Teil der Höhle, die ich mir eigentlich als
Nachtlager ausgesucht hatte. In einem schlimmen Kampf musste der Drache
furchtbares mitgemacht haben. Vom Flügelansatz bis zum schuppigen Hals
klaffte eine grosse Wunde und das schwärzliche Blut war zum Teil schon
geronnen. Wenn ich das nicht versorge, dann stirbt dieses edle Tier. So
gingen meine Gedanken, gefangen zwischen dem Schmerz, dieses Leid zu sehen
und dem fieberhaften Bemühen, irgendetwas für diese leidende Kreatur
zu tun.
Ich beugte mich über den Kopf des Kämpfers und
flüsterte beruhigende Worte, während ich mit ein paar Moosflechten
versuchte, die Wunde notdürftig zu reinigen. Aber in mir dachte ich
dennoch, das sei alles vergebens. Schwächer und schwächer wurde
der Atem und der Kopf sank auf den harten, grauschwarzen Basalt der Höhle.
"Ich hab’s", dachte ich freudig. Als ich dem alten Zauberer
kürzlich einen Gefallen tat, schenkte er mir ein Stück Bayll.
"Das ist gut für die Manneskraft", sagte er mir. Aber aus alten Legenden
glaubte ich zu wissen, dass es auch eine magische Heilkraft haben sollte
- leider nur nicht auf Menschen. Ich strich dem Drachen nochmal mit der
Hand über den schuppigen Hals und ging zum Ausgang der Höhle,
wo mein treues Pferd Aminath angebunden war. In den Satteltaschen muss der
Rest des Bayll noch sein. Und tatsächlich fand ich noch ein paar Krümel
dieses sagenumworbenen Stoffes.
In der Nähe plätscherte leise ein Bächlein,
von dem ich mir sauberes Wasser holte um darin das Bayll aufzulösen.
Meine letzten Krümel verarbeitete ich zu einer ockerfarbenen Paste
und lief zurück zu dem im sterben liegenden Bronzedrachen. Ich löste
noch eine handvoll Moosflechten ab, vermischte das mit der Paste und trug
diese Gemisch auf die Wunde auf.
Drei Tage blieb ich bei dem Drachen. Nur kurz unterbrochen,
um das nötigste an meiner Herde zu tun. Aminath lief wie der Wind,
um mich schnell wieder zu meinem Patienten zurückzubringen. Und mit
jedem Tag ging es ihm besser. Mir nicht - denn inzwischen hatte ich schon
Angst irgendwas würde passieren, wenn er mich entdeckt. Mich, einen
Schafhirten. Wusste der Drache, dass ich ihn pflegte? Oder würde seine
Wut auf meinen Berufsstand alles verdecken und er mich angreifen? Ich wusste
es nicht, aber diese Gedanke beherrschten mich, als ich an seiner Seite
wachte mehr und mehr. Dabei kam alles ganz anders, wie ich befürchtete.
Ich muss wohl leicht eingenickt sein, als ich mit dröhnenden
Worten geweckt wurde: "Schafhirte! Was ist geschehen?" Ich war zu Tode erschrocken.
Jetzt war die Zeit da, die alles entschied. "Ähhh... Du warst...."
weiter kam ich nicht. Der Drache blicke mich scharf an: "Ich weiss, dass
ich im sterben lag. Wie hast Du mich gerettet? Ich schulde Dir Dank". Pffff....
jetzt war die Lage entspannt. Ich erwiderte ihm, dass ich ihn mit Bayll
geheilt habe. Nachdenklich legte das Tier seinen Kopf auf die Seite, musterte
mich aufmerksam und sagte: "Du hast ein grosses Opfer gebracht. Und das
für einen Drachen. Und Du bist wirklich Schafhirte? Kaum zu glauben.
Oh ja, ich schulde Dir wirklich Dank. Die Menschen nennen mich übrigens
Raatoth. Dir aber werde ich meinen richtigen Namen zum Dank verraten".
Fassungslos stand ich mit grossen Augen vor dem Drachen.
Den WIRKLICHEN Namen eines Drachen - das bedeutet, dass man ihn zu jeder
Zeit rufen kann - und er kommen MUSS. Solch eine Ehre kommt selten jemandem
zuteil. Er beugte sich zu meinem Ohr, und flüsterte mir seinen Namen
zu.
"Ich werde nie vergessen, was Du für mich getan hast",
das waren seine letzten Worte, die ich hörte. Er kroch zum Ausgang
der Höhle, breitete seine Schwingen aus, flog höher und höher,
bahnte sich eine Gasse durch die tiefhängenden Wolken - und verschwand.
Wir wurden Freunde - Raatoth und ich. Und wir erlebten
noch vieles gemeinsam. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein anderes
Mal erzählt werden soll.